Freitag, 5. April 2013

Last Train Home - But Where Is My Home? Home Is Nowhere.

31.03.13: Der erste Monat in der Klinik vorüber. Seit dem 04.03.13 bin ich hier und es war zu Beginn echt schwierig sich hier in die „Gesellschaft“ ein zu finden. Die Essgestörten und ADHSler haben ihre eigene Hierarchie und gesellschaftliche Strukturen, so wie auch Lebensstandards und Statussymbole die man braucht um sich bei ihnen integrieren zu können. Erstens: Wer Magersucht hat ist klar im Vorteil!!! Knochen zeigen anscheinend Stärke, Willenskraft, Reinheit, Vollkommenheit, Kontrolle. Der ganze Schwachsinn der früher auch für mich gegolten hat. Wenn du nicht fast 99% deiner Zeit mit dem Reden über den Verlauf deiner Krankheit verbringst, dir nicht tierische Sorgen um deinen Essensplan, dessen Kalorien und Fettgehalt machst und dann noch dazu kommt das du gerne isst bzw. es sogar genießen kannst, normal schnell isst, bist du deutlich im Nachteil, denn das wird absolut von dir erwartet. Wenn du süßes gerne magst, gerne normal viel essen würdest und lieber gesund bist als das Schuljahr zu wiederholen, bist du hier falsch. Solltest du zum ersten Mal in einer Klinik sein: Geh davor wenigstens in eine Psychiatrie für ein paar Wochen! So sicherst du dir wichtige Gesprächs Themen, die du hier wirklich nötig hast! Die meisten waren schon zigtausend male in den verschiedensten Kliniken und reihen noch ein paar hunderte hinten ran, in der Hoffnung doch noch gesund zu werden nur um heraus zu finden, dass man bereits chronisch krank ist. Hauptsache ist aber das du ein paar Aufenthalte vorzuweisen hast. Von Psychiatrien bis hin zu spezialisierten Kliniken extra für Essstörungen. Alles ist erlaubt. Ehrgeiz ist das Zauberwort. Rückfälle. Eine Fassade hinter der du weinst, aber gegenüber den anderen lachst du und bist super glücklich. Komm mit jedem klar. Strahle weil dein Leben ja offensichtlich so gut verlaufen ist, das du eine Essstörung brauchst um es ertragen zu können. Herzlichen Glückwunsch! Du bist krank und unfähig gesund zu werden. Um Gotteswillen, ich bin verdammt stolz auf euch alle! Geht’s noch? Manchmal fühl ich mich hier wie im falschen Film. Total fehl am Platz. Mit Bulimie ist man hier irgendwie falsch. Klar, man sollte meinen dass Essstörung gleich Essstörung ist und es da keine großen Unterschiede gibt. Das Ergebnis ist anders. Dennoch sind die Auslöser, aufrechterhaltenden Gründe und der Verlauf oftmals die gleichen. Ich habe herausgefunden, dass ich gerne ich selbst bin. Klar, ich bin nicht perfekt, habe des Öfteren mal meine Aussetzer und katastrophale Logik Fehler, die andere zum Lachen bringen, weil sie ziemlich behindert sind. Ich kann nichts zeichnen ohne mich mindestens einmal zu verzeichnen und mir irgendetwas ausdenken zu müssen um das Bild doch noch zu retten, oder es aus Frust noch mal von vorne anfangen zu müssen. Mag sein, dass ich nicht wunderschön bin, vielleicht nicht mal hübsch, vielleicht nicht mal durchschnittlich attraktiv, eventuell sogar hässlich, mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit sogar nicht jedermanns Geschmack bin. Aber wer hat das recht mir zu sagen, wie ich aussehen soll und was ich zu tragen habe? Welches Gewicht, welche Proportionen, welche Kleidung für mich angebracht sind und mich „besser“ machen? Natürlich sehe ich ungeschminkt nur halb so schön aus, als wenn ich mich zum Feiern auf style. Manchmal renn ich auch aus langerweile auf gestylt rum, einfach weil es mir gerade gefällt. Was ist daran so falsch? Ich zwinge niemanden dazu es mir nach zu tun, also warum muss man es kritisieren? Augenringe sind zwar nicht gerade sexy, doch Schlafstörungen machen auch nicht allzu viel spaß und Angst vor dem Schlafen zu haben ist nichts was man gerne hat. Wenn ich schlafen könnte, würde ich liebend gerne schlafen. Im Spiegel entdecke ich immer noch ein Mädchen, dass ich gerne komplett auf den kopfstellen würde. dünnere Oberschenkel, nicht ganz so ausgeprägte Waden, schmalere Hüften, weniger Taille, größere Augen, farbigere Lippen, keine Brille, zarte Finger, kleinere Füße, schmalere Schultern, weniger gerissene Haut, weniger Narben. Mehr Perfektion. Ich versuch mich mit dem, was ich habe, zufrieden zu geben. So schlimm kann es nicht sein, nicht aussehen. Hoffe ich mal. Das wäre sonst zu gemein von der Welt. Andere sind fast Models und dann komm ich… Mies. Gleich ist Abendessen. Ich bin übrigens im Speisesaal. Heute Nachmittag war meine Familie mich besuchen und wir sind durch den Kurpark gegangen, haben erst Kaffee getrunken und danach Eis gegessen, sind weiter gegangen durch die Stadt und danach sind sie wieder gefahren. Über drei Stunden mit meiner Familie und ich bin glücklich, statt genervt oder gereizt oder wütend. Das ist echt ein Fortschritt in meinem Verhältnis zu meiner Familie. Ich fühl mich gerade beschissen. Ich würde gerne sport machen, aber ich habe niemanden der mit machen würde, oder mich dabei beaufsichtigen könnte. Und ich bin so gereizt, ich brauch das. Irgendetwas das mich beschäftigt. Etwas das mich beschäftigt. Ich hasse es so keine Beschäftigung zu haben. Das macht mich hibbelig. Aggressiv. Gereizt. Ruhelos. Ich fange an nach zu denken – über alles. Alles ist schlecht. Ich werde fett. Ich bin hässlich – ich will nicht gesund werden sondern endlich weg sein. Ich hasse es so leben zu müssen, wenn es doch so viel leichter zu ertragen ist, wenn alle Gefühle weg sind. Ich mache Gwen richtig nervös, weil ich so zappelig bin und nicht still sitzen kann. Mein Schal ist fertig – keine Handfertigkeit mehr möglich außer Briefe zu beantworten oder diesen Eintrag zu verfassen. Die Wäsche ist erst in einer dreiviertel Stunde fertig. Ich könnte ausrasten vor Frustration. Mich nervt es, dass ich so viel gegessen und nichts weg gelassen habe. Ich bin stolz auf mich nichts weg gelassen zu haben, deshalb sollte ich mich eigentlich mehr freuen. Es geht nicht. Es fühlt sich nach zu viel an. Viel zu viel. Einfach total falsch. Nicht richtig - ich hab mir das essen nicht verdient. Dienstag ist wieder wiegen. Das wird man bestimmt auf der Waage sehen. Oh mein Gott. Nicht noch so ein riesen Sprung. Das ertrag ich nicht. Ich will nicht. Nicht mehr wiegen, nicht mehr essen. Einfach nichts mehr müssen. Frei sein. Frei, frei, frei. Ich hasse es gesund zu werden. Man fängt an sich zu erinnern. Ich erinnere mich daran, dass ich nach Neujahr einmal am ZOB stand mit meinen Freunden. Das war vor zwei Jahren. 2011. Ich war noch dick, hatte gerade meine Diät gewonnen. Wir standen dort und haben uns unterhalten wie alle anderen. Es war nach der sechsten Stunde und voll wie immer zu dieser Zeit. Schüler von der Haupt- und Realschule sowie des Gymnasiums warteten auf ihren Bus und vertrieben sich ihre Zeit mit Blödeleien. Plötzlich lag ein Böller vor meinen Füßen. Ich war geschockt, konnte gar nicht so schnell reagieren als auch schon der Böller knallte. Ich hatte kaum einen Schritt zur Seite geschafft. Ich hatte das Gefühl, dass alle mich anstarrten. Woher der Böller kam? Von den üblichen Verdächtigen – unserer Ausländer Clique, die mit denen ich mich täglich rumschlug. Ich fühlte mich bloßgestellt. Gedemütigt vor allen – Freunden, Mitschülern, Fremden. Ich hasse mich dafür, weil es meine eigene schuld ist. Ich bin zu fett und dafür muss ich leiden – ich habe es verdient. Ich will nicht mehr. Ich will besser werden. Besser als alle. Den anderen zeigen, dass sich an meinen Charakter nichts verändert, selbst wenn ich dünn bin. Ich werde immer noch ich sein. ich fing an weniger zu essen, mehr Sport zu treiben. Härter an mir selbst zu arbeiten. An dem Geburtstag meines Bruders fing ich das kotzen an. Ich fing an mich zu hassen. Ich war an allem schuld. Wenn es Streit gab, war es meine schuld. Ich war nicht brav genug, habe zu viele zusätzliche Probleme gemacht. Ich will so nicht leben. Nicht mit der schuld. Ich will nicht leben, weil leben so weh tut. Ich bin nicht wichtig. Ich muss nicht leben. Leben ist doof. Leben ist unnötig. Leben ist unfair. Ich will nicht leben. Ich will mich runter hungern, an einem zu schwachen herzen sterben. Ein verhungertes Herz. Ich will so lange kotzen bis ich platze, bis all der Scheiß mich endlich erlöst. Schneide tiefer, werde härter. Hör auf zu fühlen. Arbeite. Du musst. Mehr kannst du nicht. das leben würde dir wehtun, dir nicht gut tun. Du kannst nicht leben, du bist zu unfähig. Du verdienst es nicht zu leben. Leide. Das hast du verdient. Mehr nicht. du bist nichts wert. Du bist nichts. Du hast es nicht verdient zu leben. 05.04.13 Ich habe mir in den letzten Tagen verschiede Einrichtungen angeschaut die betreutes Wohnen f´ür Essgestörte anbieten und bin total verwirrt und verunsichtert. Ich hoffe in den nächsten Tagen gewinne ich mehr Klarheit, denn die Situation momentan tut mir nicht gut und lässt meine Selbstzweifel extrem heftig wieder in Erscheinung treten. Morgen treffe ich mich mit meiner Mutter in Hamburg und genieße einfach mal den Tag, lenke mich etwas ab und versuche unser Verhältnis weiter hin zu verbessern. Heute habe ich ihr eine Teedose und einen super leckeren Tee gekauft, den ich ihr morgen schenke. Ich vermisse meine Familie gerade sehr. Ich habe so heftiges Heimweh, meine Stimmungsschwankungen sind enorm durch die angespannte Situation. Denn nichts ist geklärt, alles steht offen. Ich will das endlich alles geklärt ist. Ich will mein Happy End. Aber morgen wird jetzt erst mal richtig gechillt und nicht mehr an Anträge stellen usw. gedacht. Gute Nacht und viel Erfolg euch allen!